Tante Malchens Neffe.

Humoreske von Freiherr v. Schlicht
in: „Mußestunden”, Tägl. Unterhaltungsblatt zur „Dortmunder Zeitung”, vom 25.1.1914,
in: „Rheinischer Merkur” vom 4.4.1914,
in: „Die Bloomfield Germania” vom 23.4.1914


Leutnant von Berghaus, ein junger, flotter Offizier, dem die Lebensfreude und der Lebensübermut aus den Augen sprach, warf den Brief, den er soeben erhalten hatte, nach kurzem Ueberfliegen in die Ecke. Die Botschaft hatte ihm gerade gefehlt. Wie seine Tante es ihm selber schrieb, waren es mehr als zehn Jahre her, daß sie einander nicht gesehen hatten. Sie lebte im fernsten Westen, er garnisonierte im äußersten Osten und nun wollte die Tante ihn auf der Durchreise nach Rußland, wo sie ihre Schwester besuchen wollte, einmal sehen. Und das ausgerechnet übermorgen, an jenem Tage, auf den er sich schon lange freute, weil er da zu einem intimen Diner in dem Hause des reichen Kommerzienrates geladen war, und weil es sich da hoffentlich entscheiden würde, ob Marga, die schöne Tochter des Hauses, seine Liebe erwidere. Er glaubte, Margas Hand sicher zu sein, und da sollte er jetzt zu dem Diner absagen und statt dessen zu derselben Stunde, zu der er eingeladen war, auf den Bahnhof gehen und dort Tante Malchen und deren Nichte Marie, die bei der Tante als Kind des Hauses lebte, in Empfang nehmen, und diese fünf lange Stunden hindurch unterhalten und in der Stadt herumführen, bis sie dann endlich am späten Abend weiter fuhren. Er dachte ja nicht daran, lieber tat er sonst was. Seinetwegen konnte die Tante mitsamt der Nichte sich einen Dienstmann engagieren und sich von dem unterhalten lassen, bis ihm dann zur rechten Zeit doch noch wieder einfiel, daß Tante Malchen in der sehr großen und weit verzweigten Familie allgemein als Erbtante galt.

Der junge Leutnant seufzte schwer auf, es war wirklich 'ne verdammte Geschichte. Er dachte natürlich nicht daran, das Diner schießen zu lassen, aber er hob jetzt trotzdem den Brief wieder auf, um den nochmals durchzulesen: „Ich freue mich ja so darauf, mein lieber Junge, Dich endlich einmal wiederzusehen, aber Du mußt Dir die Uniform anziehen, damit ich Dich wenigstens äußerlich schon von weitem erkenne. Ich weiß ja kaum noch, wie Du aussiehst, und die Marie, das liebe Kind, kennt Dich nur aus ganz alten Photographien. Sei nur ja pünktlich um 6,15 Uhr auf der Bahn!”

Während er noch so las, durchzuckte ih plötzlich ein rettender Gedanke: statt seiner mußte ein anderer Tante Malchen und die Marie auf dem Bahnhof begrüßen. Und er wußte auch, wer dieser andere sein sollte. Nicht umsonst sah ihm ja Leutnant von Langwitz so ähnlich. Beide waren beinahe gleichgroß, beide hatten sie hellblaue Augen und dunkelblondes Haar, und sie waren beide bartlos. In dem Gesichtsausdruck und in manchen Einzelheiten bestand natürlich trotzdem ein großer Unterschied, aber wie sollte Tante Malchen, die ihn solange nicht gesehen hatte, den Unterschied merken, und vor allen Dingen würde die doch gar nicht auf den Gedanken kommen, daß sie statt des wirklichen Neffen einen falschen in ihre Arme schloß. So suchte er sofort den Freund in seiner Wohnung auf, und es gelang ihm, den für seinen Plan zu gewinnen.

Am übernächsten Nachmittag zur angegebenen Zeit stand Leutnant Langwitz mit einem größeren und kleineren Blumenstrauß auf dem Perron inmitten der aus dem Zug herausflutenden Menge und sah sich nach „seinen” Verwandten um. Jede ältere Dame, die an ihm vorüberging, prüfte er sehr eingehend darauf, ob die wohl seine Tante sein könne. Und da kam sie plötzlich auf ihn zu, mittelgroß und stark, mit einem dicken, rundlichen Gesicht, das vor Gutmütigkeit leuchtete und strahlte, mit lachenden Augen und weit ausgebreiteten Armen, und schloß darein ihren Neffen, noch ehe der Zeit gefunden hätte, sie mit ein paar Worten zu begrüßen. Sie küßte ihn ohne Umstände laut und schallend auf den Mund und auf beide Backen und rief dann: „Endlich sehe ich Dich mal wieder, mein lieber Junge. Wie nett von Dir, daß Du gekommen bist, ich fürchtete immer im stillen, Du hättest heute vielleicht doch etwas anderes vor und würdest uns vergebens warten lassen. Nun bist Du doch gekommen und hast sogar so schöne Blumen mitgebracht. Eigentlich an denen habe ich Dich erkannt und daran, daß Du der einzige Leutnant in Uniform hier bist. Und hübsch steht Dir die Uniform, mein lieber Junge, nicht wahr, Marie? — Aber was rede ich mir da in meiner Freude nur alles zusammen, nun will ich mal schnell den Mund halten, damit Ihr beide jungen Leute Euch begrüßen und küssen könnt.”

So gut es ging, hatte Langwitz, während die Tante sprach, sich Marie angeschaut, die einen Schritt hinter der Tante stand, um so ihrerseits unbemerkt den neuen Vetter mustern zu können. Und wie sie es ihm durch ein freundliches Zunicken zu sagen schien, daß er ihr gefiel, so gefiel sie auch ihm, ja, viel mehr als das, und er hätte auch wirklich kein junger Leutnant sein müssen, wenn sein Herz bei dem Anblick dieser schlanken, hübschen und sehr eleganten jungen Dame nicht lichterloh in Flammen gestanden hätte. Das Mädel nach allen Regeln der Kunst abzuküssen, hätte sich wirklich verlohnt. Aber trotz der freundlichen Tanten-Aufforderung konnte das doch schließlich nur der richtige Vetter tun, und so meinte er denn ein klein wenig verlegen: „Aber das geht doch nicht, verehrte Frau Tante, daß ich die Marie gleich so ohne weiteres küsse, wir sind uns beide doch ganz fremd.”

Tante Malchen glaubte nicht recht gehört zu haben, wenigstens schlug sie jetzt voller Erstaunen die Hände zusammen, dann aber rief sie ihrem Neffen zu: „Was sagst Du da, und wie nennst Du mich? Verehrte Frau Tante? Da hört sich denn doch alles auf, auch für Dich bin ich nur Tante Malchen, und wenn Du Marie nicht gleich küßt, dann hast Du es mit mir verdorben, denn die Maarie ist mein Verzug, und wer gegen die nicht liebenswürdig ist, bekommt es mit mir zu tun. Also vorwärts. Du tust ja wirllich so, als wenn Du gar nicht mit Marie verwandt wärest.”

Und die Marie stand da und sah ihn mit schelmischen Augen an, während sie zugleich den hübschen Mund spitzte, als wolle sie ihm zurufe: Hier bin ich, worauf wartest Du denn eigentlich noch?

Na denn: mit Gott, für König und Vaterland! dachte langwitz, und er küßte die Marie, und die küßte ihn wieder. Und weil das so gut ging, küßte er sie noch einmal, und sie blieb ihm den Gegenkuß nicht schuldig, und da alle guten Dinge drei sind, küßten sie sich zum dritten Male.

„So ist es recht, Kinder,” lobte Tante Malchen, „na, nun seid Ihr Euch hoffentlich nicht mehr fremd?”

Nein, das waren sie nicht mehr, das sagten sie sich gegenseitig mit ihren Augen, als sie bald darauf, nachdem das Handgepäck zur Aufbewahrung gegeben war, in einem Auto durch die Stadt fuhren, um sich die erst ein wenig anzusehen, bevor man ein Restaurant aufsuchte, um dort zu Abend zu essen. Langwitz hatte absichtlich das Restaurant eines Hotels aufgesucht, das wegen seiner teuren Preise berüchtigt war, und in dem er schon deshalb nicht zu befürchten brauchte, einen Bekannten zu treffen. Das Essen war vorzüglich, der Sekt war es erst recht, und so herrschte bald eine fröhliche, ausgelassene Stimmung, zumal Langwitz sich sehr schnell in seine Rolle gefunden hatte. Unbehaglich fühlte er sich nur dann, wenn das Gespräch auf die anderen Verwandten kam. Wer war der Onkel Julius, wer war die Tante Berta, und wer die Nichte Klara? Er ahnte von alledem nichts, aber er hörte trotzdem anscheinend auf das höchste interessiert zu, was Tante Malchen ihm da erzählte, verstand es jedoch immer recht bald, das Gespräch auf etwas anderes zu bringen, und die Marie half ihm dabei, denn zum Glück schien auch die wenig Familiensinn zu haben.

Und Marie lachte und amüsierte sich. Dazu trug wohl auch der Sekt seinen Teil bei, aber ihre Heiterkeit steckte auch Tante Malchen an, so daß die plötzlich sagte: „Wißt Ihr, Kinder, es ist eigentlich zu schade, daß wir schon heute weiterreisen müssen. Na, da läßt sich ja nun nichts mehr ändern, aber auf der Rückreise kommen wir bestimmt wieder her, und dann verleben wir zu dritt nicht nur einen vergnügten Abend, sondern ein paar vergnügte Tage.”

„Ach ja, bitte, Tantchen,” baten der Neffe und die Nichte fast gleichzeitig, ,während die beiden jungen Leute sich zugleich mit einem Blick ansahen, der Tante Malchen nicht entging, und der frohe Hoffnungen in ihrem Herzen wach werden ließ. Hatten die beiden wirklich schon füreinander Feuer gefangen? Na, daß Marie dem Neffen gefiel, war ja auch kein Wunder, und daß Marie an dem hübschen, schneidigen Offizier Gefallen fand, das begriff sie auch, denn in der kurzen Zeit, die sie zusammen waren, hatte auch sie den Neffen mit seinen tadellosen Manieren, mit seinem Frohsinn und mit seiner Heiterkeit lieb gewonnen. Und wenn die beiden sich wirklich lieben wollten, warum sollte sie da nicht ihren Segen geben? Da blieb ihr vieles Geld, das später einzig und allein der Marie zufiel, doch gewissermaßen in der Familie und geriet nicht in die Hände eiens fremden Mannes.

Plötzlich fiel es Tante Malchen ein, daß sie unbedingt noch einen Brief an das Mädchen schreiben müsse, das in ihrer Wohnung zurückgeblieben war, da sie ihm etwas sehr Wichtiges aufzutragen vergessen hatte. So ging sie denn in das Schreibzimmer des Hotels. Als sie dann mit leisen Schritten zurückkam, um die beiden womöglich zu überraschen, da saßen sie Hand in Hand da und sahen einander mit so verklärten Augen an, daß Tante Malchen auf den ersten Blick erriet, was die Glocke geschlagen hatte. Ihr gutes Herz wallte über, und als die beiden nun erschrocken auseinanderfuhren, weil Tante Malchen es für angebracht hielt, ihre Anwesenheit durch ein leises Räuspern zu verkünden, da sagte sie: „Ihr lieben Kinder, vor mir brauch Ihr Euch doch nicht zu genieren, euer Glück ist doch auch mein Glück.”

„Tantchen, wie soll ich Dir das je danken,” jubelte Marie auf, „denn nun kann ich es Dir ja gestehen, ich habe den Vetter auf den ersten Blick geliebt, und ich würde ihn auch dann noch weiter lieben, wenn er gar nicht mein Vetter sein sollte.”

Unwillkürlich horchte Tante Malchen auf: „Wie kommst Du nur darauf, daß der Vetter etwa nicht Dein Vetter sein sollte?”

Und auch Langwitz, dem das Herz bis zum Halse hinauf schlug, fragte anscheinend ganz erstaunt: „Ja Marie, wie kommst Du nur darauf, daß ich nicht Dein Vetter sein sollte?”

„Weil ein richtiger Vetter ganz anders küßt, als Du es vorhin auf dem Bahnhof tatest,” neckte sie ihn übermütig, um dann fortzufahren: „Ich spreche da aus Erfahrung. Erstens küssen die Vettern unpersönlicher, mehr kameradschaftlich als keck, aber trotzdem, oder gerade deshalb gibt es auf der ganzen Welt keinen Vetter, der sich erst ermahnen lassen muß, seiner Cousine einen Kuß zu geben, vorausgesetzt, daß sie leidlich hübsch ist, und nicht wahr, das bin ich doch?” warf sie übermütig ein. „Und zweitens — —”

Der Vetter war nun doch ein wenig betreten, und in der Hoffnung, vielleicht doch noch zu retten, was zu retten war, nahm er kühn ihre Frage auf: „Und zweitens, Cousine — —”

„Wie gesagt,” fiel sie ihm lachend ins Wort, „verdächtig bist Du mir schon auf dem Bahnhof vorgekommen, und als wir dann hierher in das Restaurant gingen, als Du Deine Mütze einen Augenblick auf den Tisch legtest, bevor der Kellner sie an den Garderobenhaken hing, weißt du, was ich da in Deiner Mütze fand? — — Dieses hier.” Und ihre Handtasche öffnend, entnahm sie der eine Visitenkarte, die sie vorhin ganz unbemerkt aus seiner Mütze herausgezogen hatte.

Da sah er es ein: jetzt half kein Leugnen mehr, und er wollte auch gar nicht leugnen, dazu war die Marie viel zu hübsch und viel zu lustig. Nun begriff er es auch, warum die so wenig Familiensinn besaß und ihm geholfen hatte, wenn das Gespräch auf die anderen Verwandten kam. Nun mußte er also Farbe bekennen. Was würde nur Tante Malchen sagen — — —?

Aber als er dann gebeichtet hatte, wie er aus Freundschaft für den Kameraden die Rolle des Neffen übernommen habe, da sagte Tante Malchen ebenso wenig etwas, wie sie es bisher getan. Starr und sprachlos saß sie da. So war sie in ihrem Leben noch nie überrumpelt worden, und das Schlimmste war, sie durfte nicht einmal schelten, denn sie hatte dem Leutnant ja selbst zugeredet, die Cousine zu küssen und ihm sogar zugerufen, er stelle sich wirklich so an, als sei er gar nicht mit der Marie verwandt.

Nein, sie durfte nicht schelten, und je länger sie jetzt die beiden glücklichen jungen Menschen betrachtete, desto weniger empfand sie eine unterlassene Strafpredigt als Mangel. Und schließlich konnte sie sich nicht vielmehr noch freuen,daß sie jetzt zu ihren vielen Neffen, die sie ohnehin schon besaß, noch einen neuen hinzu bekommen hatte — — —?

— — —